Verspielte Architektur und pompöse Fassaden prägten viele vergangene Epochen über Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende hinweg. Mit dem Übertritt ins 20. Jahrhundert änderte sich das allmählich. Städte zogen immer mehr Menschen an und die zahlreichen Arbeiter in den Fabriken brauchten Wohnraum – bezahlbaren Wohnraum.
Während die Bevölkerung, vor allem in den unteren Schichten der Gesellschaft, geradezu explodierte, konnte der Wohnungsbau dem kaum gerecht werden. Gleichzeitig trägt diese Epoche ein schweres Erbe: das des Ersten Weltkriegs, der Europa bis in die Grundfesten erschütterte. Funktionale Nachkriegsbauten prägten das Bild der Industriestädte.
Es ging nicht mehr darum, Monumente für die Zukunft zu schaffen, sondern einen Raum, in dem Menschen möglichst preiswert gut leben konnten. So entstand von 1910 bis 1930 die architektonische Bewegung „Neues Bauen“.
Ganze Städtebauprojekte wurden umgesetzt und selten ging es speziell um einzelne Bauwerke. Das große Ganze stand im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gemeinsam schauen wir uns in diesem Blogbeitrag genauer an, was dieses „Neue Bauen“ für Änderungen mit sich brachte und welchen Einfluss es noch heute auf unsere Baubranche hat. Was können wir von den Architekten und Ingenieuren damals lernen? Seid gespannt!
Grundprinzipien des Neuen Bauens
Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen rund um die Zeit des Ersten Weltkriegs sowie die darauffolgenden Jahre verlangten also ein neues Verständnis von Architektur und Ingenieurwesen.
Typische Merkmale des Neuen Bauens lassen sich in drei Bereichen zusammenfassen. Diese prägen Gebäude der damaligen Zeit und haben auch auf unsere moderne Architektur noch immer einen großen Einfluss.
1) Materialien und Technologie
Um Bauvorhaben umzusetzen, wurden vor allem neue industrielle Materialien verwendet. Dazu gehören Glas, Stahl, Beton und Backstein. Auf diese Weise war es möglich, größere Gebäude oder ganze Gebäudekomplexe zu konstruieren. Im Gegensatz zu vorangegangenen Architekturepochen blieben Anhänger des Neuen Bauens bei klarer Strukturierung mit geraden Linien.
Einfache kubische Formen, offene Grundrisse und freistehende Wandscheiben hatten einen Vorteil: Sie waren kostengünstig, einheitlich und boten trotzdem einiges an Platz sowie Wohnkomfort. Inspiriert wurde diese Form des Bauens beispielsweise von der Inselarchitektur in Griechenland.
2) Funktionalität
Die Aussage „form follows function“ findet im Neuen Bauen eine klare und ausführliche Anwendung. Von der Form des Gebäudes sollte jeder Betrachter erkennen, was seine Funktion sein sollte. Eine Fabrik sah aus wie eine typische Fabrik und ein Wohnhaus wie ein typisches Wohnhaus.
Dekorationen nahmen eine untergeordnete Rolle ein und Architekten spielten mit klar abgegrenzten geometrischen Flächen wie Quadraten oder Rechtecken. Architekten besannen sich auf das Wesentliche eines Bauwerks. Viel wichtiger als eine ausladende Dekoration war die Nutzbarkeit des Gebäudes für seinen jeweiligen Zweck.
3) Soziale Verantwortung
Geprägt von Fabriken mit tausenden von Mitarbeitern war natürlich vor allem der Wohnungsbau ein tragender Pfeiler des Neuen Bauens. Es mussten möglichst schnell möglichst viele Wohnungen in Fabriknähe entstehen. Ganze Viertel wurden vor den Fabriken errichtet und innerhalb weniger Jahre fertiggestellt.
Die breite und schnell wachsende Bevölkerung sollte einen leichten Zugang zu Wohnraum haben, mit allen Geschäften, die sie brauchten, und einem kurzen Arbeitsweg. Dadurch entstand der typische soziale Wohnungsbau der Nachkriegszeit.
Beispiele für Neues Bauen
Sehen wir uns also einige der Bauprojekte aus dieser Epoche an. Unsere Reise führt uns dabei quer durch Europa und sowohl zu Einzelbauten als auch zu den gerade angesprochenen Stadtvierteln, die sozialem Wohnen einen Raum gaben.
Fagus-Werk
Alfeld, Deutschland
Nur wenige Jahre nach der Jahrhundertwende beauftragte der Firmengründer Carl Benscheidt den jungen Architekten Walter Gropius mit einem ganz besonderen Projekt. In Alfeld sollte eine Schuhleistenfabrik entstehen. Dabei sollte Gropius neue Ideen und Innovationen einfließen lassen und es entstand sein Erstlingswerk: gerade Linien, große Fensterflächen und die Verwendung industrieller Baustoffe waren der Startschuss für eine neue Art des Bauens.
Das Fagus-Werk gilt heute als erstes Bauprojekt des Neuen Bauens. Für Fabriken war eine Konstruktion aus Stahl und Glas ungewöhnlich, vor allem die stützenlosen, verglasten Ecken sind dafür verantwortlich, dass es sich klar von seinen Bauzeitgenossen abhebt.
Seit seiner Fertigstellung im Jahr 1911 wird hier durchgängig produziert. In diesem eingetragenen Baudenkmal entstehen neben den namensgebenden Fagus-Schuhleisten auch Mess- und Brandschutzsysteme. Eine aufwändige Restaurierung von 1982 bis 2002 lässt die Fabrik noch heute in altem Glanz erstrahlen und im Jahr 2011, anlässlich des 100-jährigen Bestehens, wurde das Fagus-Werk in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommen.
Villa Tugendhat
Brünn, Tschechische Republik
Auch im Bau von Wohnhäusern zeigte sich ein starker Einfluss der Bewegung „Neues Bauen“. Der deutsche Architekt Ludwig Mies van der Rohe entwarf eine Villa in Brünn – noch heute ein Sinnbild für Minimalismus und zeitlose Eleganz.
Von 1929 bis 1930 entstand ein einzigartiges Haus für seine Auftraggeber, die Familie Tugendhat. Besonders ist hierbei nicht nur diese architektonische Reinheit durch einheitliche Struktur und ein offenes Raumkonzept. Auch die idyllische Lage inmitten von Natur und seine nüchterne, aber elegante Gestaltung tragen zu einem faszinierenden Gesamtbild bei.
Nach verschiedensten Nutzungen, u.a. als orthopädische Abteilung des Krankenhauses oder als Turnhalle, erhielt es erst im späten 20. Jahrhundert wieder an Bedeutung und ging als architektonisches Erbe des Neuen Bauens in die Nutzungsverantwortung des Museums der Stadt Brünn über.
Noch heute gilt sie als Ikone des modernistischen Wohnungsbaus in Brünn. Als einziges Bauwerk moderner Architektur der Tschechischen Republik wurde die Villa Tugendhat im Jahr 2001 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Nach umfassenden Restaurierungsarbeiten wurde das Haus 2012 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Weißenhofsiedlung
Stuttgart, Deutschland
Bei dieser Weißenhofsiedlung (nach alter deutscher Rechtschreibung noch Weissenhofsiedlung) handelt es sich nicht um ein gewachsenes kleines Viertel, sondern das Ergebnis einer Weltausstellung zum Thema Neues Bauen. Präsentiert wurden hier die Arbeiten führender Architekten dieser Zeit, dazu gehören Walter Gropius, Le Corbusier und Mies van der Rohe. Innovative Wohnkonzepte schufen sozusagen ein Schaufenster, durch welches die Ideen des Neuen Bauens betrachtet werden konnten.
Der deutsche Werkbund arbeitete mit den Architekten eng zusammen und durch die Verwendung damals innovativer Materialien wie Stahl und Beton entstanden in einer Bauzeit von nur 21 Wochen ganze 21 Häuser mit insgesamt 63 Wohnungen.
Die Zeit des Nationalsozialismus brachte der Siedlung aufgrund der weißen Dachterrassen den Beinamen „Araberdorf“ ein und um das ideale Stadtbild zu wahren, sollten die Häuser abgerissen werden. Doch glücklicherweise kam es nicht dazu. Durch den Kriegsausbruch wurde dieses Vorhaben gestoppt.
Einige der Gebäude wurden während des Zweiten Weltkriegs teilweise zerstört und beim Wiederaufbau, beispielsweise durch Satteldachaufbauten, sehr verfremdet. Im Jahr 1958 wurde die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt, später in den 1980er Jahren erfolgte eine umfassende Sanierung der noch verbliebenen Gebäude.
Der Name der Siedlung, Weißenhof, geht übrigens auf einen Bäcker zurück. Georg Philipp Weiß hatte dort 1779 auf einem brachliegenden Stück Land einen landwirtschaftlichen Betrieb (Meierei) errichtet. Nicht nur die Siedlung, sondern auch der Stuttgarter Stadtteil Weißenhof sind nach ihm benannt.
Rietveld-Schröder-Haus
Utrecht, Niederlande
Das Rietveld-Schröder-Haus wurde 1924 vom bekannten Möbeldesigner Gerrit Rietveld für Truus Schröder, eine Witwe mit ihren drei Kindern, entworfen. Sie wohnte bis zu ihrem Tod 1985 in dieser ganz besonderen Komposition von Wohnraum. Mit ihrem Tod übertrug sie ihr Haus in die Obhut der Öffentlichkeit und machte es damit für Besucher zugänglich.
Rietveld war ein wichtiges Mitglied der niederländischen Kunstströmung De Stijl. Diese wurde nach der 1917 gegründeten Zeitschrift für moderne Kunst benannt und brachte einen Stil hervor, der mit alten niederländischen Traditionen im Bauwesen brach. Genau ein solches Haus hatte Schröder sich gewünscht: schlicht, modern und auf keinen Fall traditionell. Für den Möbeldesigner ging ein Traum damit in Erfüllung, seine Ideen für einen modernen Stil nun auch auf ein Haus übertragen zu können.
Das Rietveld-Schröder-Haus gilt als architektonischer Höhepunkt der De Stijl Bewegung und ist noch heute ein ikonisches Beispiel für Neues Bauen. Die kubistische Form, das Verschmelzen von Innen- und Außenraum sowie die geraden Linien und Verwendung von Primärfarben sind prägende Merkmale dieser architektonischen Strömung.
Großsiedlung Siemensstadt
Berlin, Deutschland
Ein weiterer bekannter Name für dieses Viertel ist auch „Ringsiedlung Siemensstadt“, benannt nach der architektonischen Vereinigung „Der Ring“, der die meisten Verantwortlichen angehörten. Heute liegt diese Wohnanlage im Berliner Ortsteil Charlottenburg-Nord. Erbaut wurde sie zwischen 1929 und 1931, ursprünglich geplant, um den Arbeitern der benachbarten Siemenswerke eine Möglichkeit für bezahlbaren Wohnraum zu eröffnen.
Durch die notwendigen finanziellen Kürzungen entstand jedoch ein Siedlungsbauprojekt, das vor allem so günstig wie möglich möglichst viel Wohnraum schaffen sollte, ohne dass Hygiene- oder Komfortansprüche herabgesetzt würden. Dafür schrieb die Stadt einen Auftrag aus und fand schnell interessierte Architekten: größtenteils Anhänger des Modernen Bauens.
Im „Ring“ herrschte zwar Einigkeit darüber, dass jedes der Gebäude im Detail anders aussehen sollte. Trotzdem sollten den Wohnblöcken Einfachheit, Klarheit und Ehrlichkeit als Grundprinzipien zugrunde liegen. Man wollte bewusst weg von Ornamenten, Verzierungen und allgemein von der pompösen Architektur des Kaiserreichs.
Die Ringsiedlung Siemensstadt war ein Experiment für neue Wohnkonzepte. Durch die Ausrichtung der Wohnblöcke zur Straße, die schmalen Zuwege und die geringe Tiefe wurde bewusst darauf hingearbeitet, dass die Menschen sich dort wohlfühlen konnten. Es sollte möglichst wenig der Wiesenfläche verbaut werden, die Gebäude waren nur so tief, dass jede Wohnung zu beiden Seiten Fenster und damit auch über den gesamten Tag hinweg genügend Licht hatte.
Für jeden Bereich der Siedlung war ein anderer bekannter Architekt zuständig. Dadurch tragen die Gebäude jeweils andere, teils etwas skurrile Bezeichnungen. Der Architekt Otto Bartning schuf beispielsweise ein langgezogenes Wohnhaus mit dem wenig klangvollen Namen „Langer Jammer“. Im Juli 2008 wurde die Großsiedlung Siemensstadt als eine von sechs Siedlungen der Berliner Moderne in die Liste der UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.
Fazit: Neues Bauen
Mit dem Neuen Bauen kehrten sich Architekten des frühen 20. Jahrhunderts also endgültig von den Traditionen des historischen Stils ab. Sie legten den Fokus auf klare Linien, einfache Formen und innovative Materialien, um günstig und schnell möglichst viel funktionalen Wohnraum zu schaffen, in dem auch die breite Bevölkerung gut leben konnte.
Schließlich gab es zu dieser Zeit eine Menge soziale, gesellschaftliche und natürlich auch technologische Veränderungen: Dem sollte die Baubranche, vor allem im Wohnungsbau, in nichts nachstehen.
Was wir vom Neuen Bauen lernen können
Das Neue Bauen war eine prägende Bewegung für die Entwicklung unserer modernen Architektur. Hier wurde der Grundstein für viele zeitgenössische Baustile gelegt, die wir in weiteren Blogbeiträgen noch eingehender besprechen werden. Die Leitsätze und Grundprinzipien dieser architektonischen Strömung können uns noch heute dazu inspirieren, bezahlbaren und qualitativ hochwertigen Wohnraum zu schaffen, ohne zu viel Flächenverbauung oder zu hohe Investitionskosten in Kauf nehmen zu müssen.
Durch die enge Verknüpfung von Form und Funktion können wir Gebäude so gestalten, dass sie ihren Zweck optimal erfüllen. Neben einem ästhetischen Design sollen jede Ecke und jedes Detail eine entsprechende Funktion haben, die das Leben der Bewohner verbessert. Durch diesen Anspruch wäre es wieder möglich, mehr für die Menschen zu bauen, die später in diesen Häusern leben, anstatt für die finanziellen Wünsche und Vorstellungen der Investoren, wie es heute leider oft der Fall ist.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Materialinnovation. Während des Neuen Bauens wurden moderne Materialien wie Stahl, Glas und Beton eingeführt. Es wurde mit damals experimentellen Bauweisen gearbeitet, um alle Ansprüche an modernen Wohnraum erfüllen zu können, ohne die Ziele des sozial gerechten Wohnungsbaus aus den Augen zu verlieren.
Ingenieure bauen heute seit Jahrzehnten überwiegend mit dem gleichen Baustoff: Stahlbeton. Obwohl die schlechte Umweltbilanz des Betons schon lange bekannt ist und Materialien mit besseren Eigenschaften auf dem Markt sind. Natürlich ist das vor allem ein finanzielles Problem. Stahlbeton ist nun einmal günstig und, wie bereits erwähnt, wird im Wohnungsbau schon lange mehr für die Investoren als für spätere Bewohner gebaut. Man will möglichst günstig Wohnungen bauen lassen, die möglichst teuer vermietet werden können. Umwelt- oder soziale Aspekte spielen da leider oftmals eine untergeordnete Rolle.
Kaum jemand wagt sich an modernere Methoden und Baustoffe. Es bleibt alles genau so, wie es ist: Die Baubranche ist sehr träge und unwillig, wenn es um Veränderungen geht. Glücklicherweise gibt es in unserer Branche auch Lichtblicke und von vielen davon könnt ihr in unseren anderen Blogbeiträgen bereits lesen. Bleibt also zu hoffen, dass sich die Vorteile neuer Materialien und Technologien irgendwann gänzlich durchsetzen werden, wie es schon vor 100 Jahren geschehen ist.