Im Bauwesen treffen wir seit jeher auf beeindruckende Gebäude, die in verschiedenster Form geschmückt, dekoriert und zu Ensembles organisiert werden. Eines haben viele von ihnen allerdings gemeinsam: Ihre Grundstruktur beruht auf einfachen, stabilen geometrischen Formen.
Meist finden wir Quader, Würfel oder Zylinder als grundlegende Formgebung berühmter Bauwerke. Baumeister, später Architekten und Tragwerksplaner, nutzten einfache geometrische Strukturen für die Planung sowie Berechnung ihrer Bauwerke. Harmonie, Einheitlichkeit sowie optische Stabilität gewannen und hielten die Vorherrschaft im Bauwesen – und das über Jahrtausende hinweg. Doch ist das die Bestimmung von Architektur?
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war unsere Technik in der Baubranche bereits weit vorangeschritten. Quaderförmige Gebäude mit etwas Fassadenschmuck und Flachdächern? Ingenieurskunst kann wesentlich mehr!
Wilde Architektenträume waren nicht mehr länger nur Fantasievorstellungen, sondern konnten technisch umgesetzt werden. Architekten, die am häufigsten mit dem Dekonstruktivismus in Verbindung gebracht werden, sind bspw. Frank Gehry, Zaha Hadid, Daniel Libeskind und Rem Koolhaas.
Merkmale des Dekonstruktivismus
Es war an der Zeit, alte Strukturen aufzubrechen, nach außen hin zu zeigen, dass auch optisch instabile Gebäude umsetzbar und noch dazu wunderschön sein können. Es geht beim Dekonstruktivismus in der Architektur streng genommen überhaupt nicht um das De-Konstruieren von Bauwerken. Vielmehr tritt die Architektur als Kunstform in den Vordergrund. Die hervorstechendsten Merkmale des Dekonstruktivismus sind:
- Bewusste Fragmentierung und Disharmonie von Gebäuden durch schräge Wände oder versetzte Ebenen
- Aufbruch und Neuanordnung traditioneller Strukturen
- Asymmetrische und chaotisch wirkende Formen als Bruch zur traditionellen Symmetrie
- Verzerrte Proportionen und Anordnung von Räumen
- Heterogene Ebenen durch eine oft ungewöhnliche Kombination von Materialien
Schauen wir uns also einige faszinierende Bauwerke des Dekonstruktivismus etwas genauer an. Was macht sie so besonders und wie sind solche Gebäude letztendlich entstanden? Wir nehmen euch mit auf eine Reise zu verschiedensten Orten mit den wohl skurrilsten Bauprojekten, die in neuester Zeit entstanden sind!
Beispiele für Dekonstruktivismus
Dekonstruktivismus auf dem Vitra-Campus
Weil am Rhein, Deutschland
Die Vitra AG ist ein Schweizer Unternehmen, das sich auf die Herstellung und den Handel mit Wohn- und Büromöbeln spezialisiert hat. Vitra stellt beispielsweise die samtblauen Drehstühle für den deutschen Bundestag her. Einer der 14 Standorte weltweit ist der Vitra-Campus in Baden-Württemberg (Deutschland).
Auf dem Firmengelände des Campus wurden schrittweise etliche Fabrikations-, Logistik- und Verwaltungsbauten errichtet. Seit 1989 gehört auch ein öffentlich zugängliches Museum zum Ensemble außergewöhnlicher Bauten. Die Gebäude sind vollkommen unterschiedlich und sollen die offene Unternehmensphilosophie der Firma widerspiegeln.
Einige der Bauwerke auf dem Vitra-Campus sehen wir uns nun etwas genauer an, denn sie sind ein Sinnbild für die Architektur des Dekonstruktivismus. Macht euch bereit für einige der außergewöhnlichsten Bauwerke, die ihr je gesehen habt.
Vitra Design Museum
Beginnen wir mit dem wohl bekanntesten Gebäude auf dem Vitra-Campus: dem Vitra Design Museum, entworfen von Frank Gehry. Das Hauptgebäude war für den amerikanischen Architekten sein erstes Projekt in Europa. Die weiß verputzte Fassade wirkt beinahe klassisch, doch diese Annahme täuscht.
Aus einfachen, geometrischen Grundformen konzipierte er ein Bauwerk, das beinahe dynamisch wirkt. In den diagonalen Baukörpern, die sich von außen fast in dieses skulpturale Bauwerk drängen, befinden sich die Treppenhäuser. Kubische und flache Elemente scheinen sich geradezu ineinander zu schieben und erschaffen eine Ästhetik, die ihresgleichen sucht.
Eröffnet wurde es 1989 und bis heute befinden sich in diesem öffentlichen Museum auf 700 m² wechselnde Ausstellungen zu Ästhetik und Design der Firma Vitra: ein wirklich interessantes und beeindruckendes Bauwerk des Dekonstruktivismus.
Feuerwehrhaus
Im Jahr 1981 zerstörte ein Feuer innerhalb weniger Stunden große Teile des Firmenareals. Damit ein solches Unglück nicht noch einmal passieren konnte, fiel die Entscheidung für eine eigene Werksfeuerwehr. Das Gebäude sollte etwas Besonderes sein, wie es für das Firmengelände üblich war.
Mit dem Entwurf wurde Zaha Hadid beauftragt – das erste Gesamtbauwerk aus den Händen dieser heute sehr bekannten Architektin. In der großen, teils verglasten Halle finden mehrere Feuerwehrfahrzeuge ihren Platz. Ihr schließt sich ein weiterer Bereich mit Umkleide- und Gemeinschaftsräumen an.
Besonders sind schon auf den ersten Blick die ungewöhnlichen Formen des Gebäudes. Die spitzen Winkel mit ihren scharfen Kanten heben sich von den rechtwinkligen Produktionshallen des Campus ab und wurden in Schalenbauweise direkt vor Ort gegossen.
Im Jahr 1993 wurde das Feuerwehrhaus fertiggestellt und gilt noch heute als Schlüsselbauwerk für die Architektur des Dekonstruktivismus. Aktuell wird es als Ausstellungsraum und für Veranstaltungen genutzt.
VitraHaus
Mit den Jahren und der touristischen Beliebtheit des Vitra-Campus wuchs der Wunsch nach einem repräsentativen Gebäude, um Besuchern die gesamte Produktpalette der Firma erlebbar zu machen. Es wurde entschieden: Ein Flagshipstore musste her und natürlich sollte auch dieses Gebäude architektonisch ein Meisterwerk sein.
Beauftragt wurde dafür eines der wohl renommiertesten Architekturbüros unserer Zeit: Herzog & de Meuron. Platz finden sollten hier nicht nur Ausstellungsräume für Produktinstallationen und Beratungsräume. Auch ein Museums-Shop, ein Café und eine Rezeption sollten integriert werden – sozusagen ein Gebäude für alle Bedürfnisse. Im Jahr 2010 war es so weit: Das VitraHaus wurde eröffnet.
Ein Haus hat nur ein Dach? Diese traditionelle Denkweise brachen die Architekten hier auf. Die Struktur des Gebäudes ist ein wahres Meisterwerk des Dekonstruktivismus. Ganze zwölf langgezogene Giebelhäuser liegen aufeinander und bilden das fünfstöckige Bauwerk. Durch die Giebeldächer wirkt jeder Raum wohnlich und beinahe wie das eigene vertraute Zuhause.
Diese besondere Raumkonzeption wird in Fachkreisen auch als „domestic scale“ betrachtet – denn wo kann man sich Wohnmöbel besser in den eigenen vier Wänden vorstellen als in Räumlichkeiten, die direkt an zuhause erinnern?
Seattle Central Library
Seattle, USA
Wie die meisten Architekturstile lässt sich auch der Dekonstruktivismus verschieden interpretieren. Der bekannte Architekt Rem Kolhaas entwarf gemeinsam mit Joshua Prince-Ramus das neue Bibliotheksgebäude in einer ganz eigenen Interpretation des Dekonstruktivismus. Ein durch und durch gläsernes Gebäude: für die einen zu opulent für eine Bibliothek, für andere ein Meisterwerk.
Die Struktur der Seattle Central Library besteht aus verschiedenen Vor- und Rücksprüngen. Nicht nur durch diese ungewöhnliche Form, auch durch die Materialien Stahl und Glas, hebt sich das Gebäude von allen anderen aus seiner Umgebung ab.
Im Jahr 2004 eröffnete dieses Bauwerk, das – verglichen mit anderen in diesem Beitrag – vielleicht nicht ganz so spektakulär wirkt. Die Konstruktion hat allerdings eine besondere Bedeutung, denn entgegen üblicher Bibliotheken, die oftmals eher dunkel und steif wirken, präsentiert sich dieses Gebäude gläsern, dynamisch und offen für Tageslicht.
Das Bibliothekswesen hat in Seattle eine lange Tradition. Seit 1891 ist die Seattle Central Library nun das dritte Bibliotheksgebäude an dieser Stelle und stellt der Öffentlichkeit etwa 1,5 Millionen Medien zur Verfügung.
Groninger Museum
Groningen, Niederlande
Von der Steinzeit bis hin zur Gegenwart: Hier schlummern Schätze. Der architektonisch bedeutendste Schatz ist allerdings das Gebäude selbst. Schon beim Hinsehen wird schnell klar: Hier war Kreativität am Werk. Wie eine lange, schmale Insel liegt das Groninger Museum inmitten von Wasser und umfasst drei miteinander verbundene Baukörper.
Etwa 100 Jahren nach seiner Gründung wurde beschlossen, ein neues Museumsgebäude zu errichten, das den alten Bau ersetzte. Als Architekt wurde der italienische Designer Alessandro Mendini beauftragt, ein künstlerisch wie auch baulich wertvolles Gebäude zu entwerfen. Im Jahr 1994 wurde das Groninger Museum eröffnet.
Mit seinen zahlreichen Formen, Materialien und Farben, die scheinbar willkürlich aufeinandertreffen, ist es ein absolutes Musterbeispiel für den Dekonstruktivismus in der Architektur.
Fazit: Dekonstruktivismus
Die Architektur des Dekonstruktivismus zeigt vor allem, dass Architekturgeschichte zwar in (Sand)Stein gemeißelt sein kann, aber deshalb nicht unveränderbar ist. Vor allem im Dekonstruktivismus zeigt die Architektur ihre wahre Seele: Architektur ist Kunst.
Mit unseren heute verfügbaren technologischen Mitteln können wir weit mehr als nur steife traditionelle Prinzipien verfolgen. Natürlich, Traditionen sind wichtig und sollten bewahrt werden. Aber wir müssen es auch immer wieder wagen, über den Tellerrand hinaus zu schauen.
Architektur als kreative Kunstform ist mit unseren technischen Mitteln selbst für die ungewöhnlichsten und skurrilsten Bauprojekte umsetzbar. Mithilfe modernster Ingenieurstechnik entstehen hier nicht einfach nur Gebäude, sondern absolute Gesamtkunstwerke.
Gerade in der aktuellen Zeit von wuchtigen, quaderförmigen Stahlbetonkonstruktionen fehlen unseren Städten einige kreative Lichtblicke. Schief, chaotisch, vollkommen wild zusammengewürfelt: Der Dekonstruktivismus hat in unserer Architektur durchaus seine Daseinsberechtigung und führt uns immer wieder zu beeindruckenden Bauwerken mit absolutem Wiedererkennungswert.